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Geschichte

Die Entwicklung des Wissens um die Aufgaben und Wirkungsweisen des Atems zählt zu den ältesten Errungenschaften menschlicher Kultur und Heilkunde und reicht mehr als 4000 Jahre zurück. Atem und Lebenskraft waren in vielen religiösen Systemen gleichbedeutend. (Qi im Chinesischen, Pneuma im Griechischen, Ruach im Hebräischen)

Nach den in der östlichen Kultur entwickelten Atem- und Bewegungsschulen wie der des Tai Qi und der Daoistischen Übungen (Qi Gong) in China, Zen-Praktiken in Japan, Mazdaznan und Yoga in Indien entstanden im antiken Griechenland die Pneumaschulen, deren Zielsetzung darin bestand, neben physischer Gesundheit durch Gymnastik auch die religiöse Entwicklung sowie die geistige und persönliche Reifung des Menschen zu fördern. Ästhetik und Ethik waren Bestandteile der Arbeit mit dem Pneuma.

Von der mechanischen Gymnastik zum Körper- und Atembewusstsein

Ab dem 19. Jahrhundert gab es im deutschsprachigen Raum schon Atemgymnastik und Atemkuren, z.B. gegen Tbc und atemeinschränkende Deformationen von Brustkorb und Wirbelsäule. Man ging auch mit Mechanik – wie Atemapparaten – gegen körperliche Leiden und zur Leistungssteigerung vor, wobei man zwischen männlicher und weiblicher Gymnastik unterschied.

Anfang des 20. Jahrhunderts entstand ein neues Bewusstsein für den Körper sowie die Bedeutung des Atems im Gesundheitswesen. Der Atem wurde zunehmend als eigenständiges, geistiges und spirituelles Phänomen anerkannt, und die Beziehung zwischen Körper und Seele wurde thematisiert. In der Folge wurde die praktische Weiterentwicklung verschiedener methodischer Ansätze vor allem von Frauen mit ihrem erfahrungsorientierten Ansatz getragen. Sie entwickelten eine neue Körperkultur und Leibpädagogik, die vom Wunsch nach mehr Selbstbestimmung und Befreiung aus den einengenden Vorschriften des damaligen Frauenbildes getragen war (wie z. B. das Tragen von Korsetten).

Vorgänger:innen der heutigen Atemtherapie und Atempädagogik

  • Friedrich Ludwig Jahn (1778 – 1852) wurde als Turnvater Jahn bekannt. Er initiierte die erste Turnbewegung, um die Jugend auf den napoleonischen Verteidigungskampf vorzubereiten. Daraus ging das Geräteturnen am Barren und am Reck hervor.
  • Hinrich (1890 – 1974) und Senta Medau (1908 – 1971) gründeten 1929 die Medauschule in Berlin, eine Gymnastikschule mit ganzheitlich pädagogischem Ansatz, der von Senta Medau um die Atemtherapie von Dr. Johannes Ludwig Schmitt erweitert wurde.
  • Hede Kallmeyer-Simon (1881 – 1976), Elfriede Hengstenberg (1891 – 1992) und Miriam Goldberg waren die Protagonistinnen der Körperkulturbewegung und Bewegungserziehung und der Frauengymnastik (Unterleibsgymnastik).
  • Elsa Gindler (1885 – 1961) eine Schülerin von Hede Kallmeyer, gründete mit dem Musikpädagogen Heinrich Jacoby (1889 – 1964) die Schule für Bewegungspädagogik.
  • Charlotte Selver (1901 – 2003) ist 1938 in die USA emigriert und hat ihre Arbeit „Sensory Awareness“ (Erleben durch die Sinne) genannt. Über das Atmen sagt sie: Wenn alles natürlich verläuft, ist die Atmung eine immerwährende Energiequelle. Sie sorgt für genau das Maß an Energie, das wir brauchen, für das, was wir gerade tun – wenn wir es erlauben“.
  • Clara Schlaffhorst (1863 – 1945) und Hedwig Andersen (1866 – 1957) entwickelten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ganzheitliche Atem-, Stimm- und Sprachtherapie mit dem Ziel, den Menschen wieder mit seinen „Atemkräften und dem natürlichen Lebensrhythmus“ in Verbindung zu bringen.
  • Cornelis Veening (1895 – 1976) war ursprünglich Sänger. Durch einen Stimmverlust fand er zum Atem. Seine Atemlehre wurde von asiatischen Körperlehren und der Tiefenpsychologie beeinflusst. Er arbeitete an der Wahrnehmung für den inneren Atem.
  • Herta Grun (1902 – 2007) war seine Schülerin, die später die Veening Arbeit im sogenannten „Waldmatter Arbeitskreis“ weitergeführt hat.
  • Wilhelm Reich (1897 – 1957) begann den Körper in die Psychoanalyse zu integrieren und hat dabei die Bedeutung des Atems als vitalisierende Kraft erkannt. Er gilt als der Begründer der Körperpsychotherapie.
  • Dr. Alexander Lowen (1910 – 2008) begann 1942 eine Lehrtherapie bei Wilhelm Reich. Danach schloss er sein Medizinstudium 1951 in der Schweiz ab. Er begründete die Bioenergetik, eine Form der Körperpsychotherapie, bei welcher der Ausdruck der Körperhaltung, die Qualität der Atmung und auch die Arbeit am emotional verbundenen stimmlichen Ausdruck Teile der Arbeit sind.
  • Dr. Johannes Ludwig Schmitt (1896 – 1963) der Atem-Schmitt, war ein Pionier der Atemarbeit. In seiner Münchner Klinik, die er erst 1949 nach der Beschlagnahmung des Nazi-Regimes zurückbekam, entwickelte er ein Konzept das den „ganzen Menschen“ voraussetzt. Über Jahrzehnte entwickelte er eine praktische Anwendung der Atemwissenschaft im Gesundheitswesen, welche die natürlichen Heilkräfte im Menschen anregen und die Möglichkeiten der Selbsthilfe aufzeigen sollte. Er erweiterte seine Atemtherapie durch Atemmassage und Atemgymnastik, die in seiner Klinik durchgeführt wurden. Hier praktizierte auch Dr. Friederike Richter, die ältere Schwester von Herta Richter. Die Atemmassage wurde von Dr. Schmitt entwickelt, von Herta Richter, Liselotte Brüne und Dr. Volkmar Glaser weitergegeben. Sie wird bis heute in Deutschland und Österreich als Weiterbildung angeboten.

Die Atempädagogik heute

  • Herta Richter (1925 – 2013) wurde durch ihre Schwester beeinflusst und begann als Sprechstundenhilfe in der Praxis von Dr. Schmitt zu arbeiten. Er war ihr wichtigster Lehrer. Sie ließ sich später als Heilpraktikerin ausbilden. Die Begegnung mit Volkmar Glaser (Psychotonik), Ilse Middendorf und Cornelis Veening beeinflussten ihre Atemarbeit. Sie gründete das Atemhaus in München wo sie ihre Lehre weitergab, und das jetzt von ihren Mitarbeiter:innen weitergeführt wird.
  • Volkmar Glaser (1912 – 1997) war Mediziner und Begründer der Eutonie (Psychotonik). Er erkannte den komplexen Zusammenhang von Körperhaltung, Bewegung und Tonus der Muskulatur und ihre Wirkungen auf Psyche und Atem. Beeinflusst haben seine Arbeit Dr. Johannes Ludwig Schmitt und Elsa Gindler. Er beschreibt auch, dass die Intention des zwischenmenschlichen Kontakts während der Atembehandlung einen entscheidenden Einfluss auf die Wirkung hat.
  • Ilse Middendorf (1910 – 2009) (in Frankenberg in Sachsen geboren), machte verschiedene Ausbildungen unter anderem in Gymnastik, Tanz und Formen der Leibtherapie und Massage. Sie besuchte die Atemschule von Clara Schlaffhorst und Hedwig Andersen, arbeitete mit Cornelis Veening zusammen und absolvierte am „Institut für Atem- und Nervenpflege“ eine Ausbildung bei dem Atemlehrer Emil Aurelius-Baeuerle. Auch die Methoden von Dr. Johannes Ludwig Schmitt beeinflussten ihre Arbeit. Sie begründete 1965 ihre eigene Praxis in Berlin und ihre eigene Atemlehre, die unter dem Namen „Der Erfahrbare Atem“ bekannt ist. Sie hat an Einrichtungen der Erziehungsberatung für sprachgestörte und behinderte Kinder gearbeitet und erhielt eine Professur an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Berlin. Ihre Lehre wird bis heute an den Instituten für den Erfahrbaren Atem in Berlin und Beerfelden weitergegeben. Der Leitsatz ihrer Lehre ist: „ Ich lasse meinen Atem kommen, ich lasse ihn gehen und warte, bis er von selber wieder kommt.“
  • Erika Kemman-Huber, geb. 1941. Ihre Atemlehre „Der bewusste zugelassene Atem“ hat sie auf der Basis von Ilse Middendorfs Lehre weiter entwickelt. Im Mittelpunkt steht der Atem resp. die Atembewegung als verbindendes Element zwischen Körper, Seele und Geist. Das übergeordnete Ziel ist, den unbewussten Atem ins Bewusstsein zu holen, um dann den bewussten Atem geschehen zu lassen – zuzulassen. Der Atem wird nicht geführt, sondern er ist das führende Element.

Atempädagogik in Österreich

In Österreich wurde die Atempädagogik vor allem durch Norbert Faller, geb. 1957 in Offenburg, eingeführt. Er wurde bei Ilse Middendorf in Berlin ausgebildet und bietet seit 1999 Ausbildungen zum/zur Atempädagog:in in Österreich an. Er ist Dipl. Pädagoge, Hakomi Therapeut und zert. Practitioner in Somatic Experiencing. 2011 wurde die Ausbildung akademisch und in der Folge an der Fachhochschule Gesundheit Tirol angeboten. Die Ausbildung wird vom deutschen Berufsverband BVAtem anerkannt. Die meisten Atempädagog:innen in Österreich wurden von Norbert Faller ausgebildet.

Der Berufsverband atem austria besteht seit 2007.