Atem-Schmitt
Das unglaubliche Leben des Atemdoktors im Räderwerk der Zeit. Buchrezension
von Christina Buder
Nun liegt sie endlich auf dem Tisch, schwer wie ein Ziegel und 571 S. dick. Die vor fünfzehn Jahren noch von Herta Richter initiierte, umfassende Biografie von Johannes Ludwig Schmitt (1896-1963) ist aber mehr als ein minutiöses Erforschen des Lebenswegs und ein tiefes Eindringen in die Gedankenwelt eines der maßgeblichsten Pioniere der Atemtherapie. Dem Autor und Medizinhistoriker Wolfgang Locher ist auch ein äußerst interessanter Beitrag zur Ideengeschichte der ganzheitlichen Atemheilkunst gelungen. Ilse Middendorf, die Begründerin des Erfahrbaren Atems, und Herta Richter, welche u.a. die heute gelehrte Atemmassage entwickelte, waren Schülerinnen von Schmitt und in Folge ihrerseits wiederum Lehrende der heute praktizierenden Atemtherapeut:innen und Atempädagog:innen.
Das filmreife Leben des virilen und offensichtlich vom Atem als Lebensthema besessenen Mannes spielt sich gleichsam wie unter einem Brennglas der Zeitgeschichte ab: Weimarer Republik, Nazizeit und junge Bundesrepublik Deutschland. Beruflich war er ungeheuer produktiv und erfolgreich als (Mode-)Arzt, Klinikleiter, Atemlehrer, Produzent von Naturheilmitteln, Autor und Verleger u.v.m. . Politisch nicht unumstritten wegen seiner Beziehungen zu Nazigrößen, saß er aber dennoch in den Gefängnissen des Naziregimes und musste um sein Leben bangen. Mehr als Philosoph des Atems denn als Arzt war er eine der schillerndsten Persönlichkeiten der vielfältigen Lebensreformbewegung der Zwischenkriegszeit, die auf die „Krise der Medizin“ mit heilpraktischen Methoden antwortete, wobei Atem und Bewegung zentrale Themen waren. Sein erstes Werk, Hohelied des Atems (1927), erinnert an die heute schwer verständliche Gedankenwelt eines Rudolf Steiners. Erst später, mit seinem 1956 erschienenen Werk Atemheilkunst schuf er eine Enzyklopädie, die auch auf die wissenschaftliche Schulmedizin abzielte. Seine oft mit brachialer Gewalt durchgeführte Atemmassage würde bei den heutigen Patient:innen kaum mehr durchgehen und gar als Körperverletzung gelten.
Wie so oft zerfällt das Lebenswerk eines so außergewöhnlichen Denkers und Machers nach seinem Tod – Gurus strahlen einsam im Hier und Jetzt.
Und wie so oft sind es die Frauen, die durch Netzwerken, durch Geduld und Bodenhaftung das Licht weiter tragen. War es bereits die Arbeits- und Lebensgefährtin Dr. Friederike Richter, die als tragisch endende Frau im Schatten des berühmten Mannes sein Buch Atemheilkunst vorantrieb, so war es deren Schwester Herta, die 1954 sein Atemhaus München übernahm und dort die von ihr weiterentwickelte und bis heute gelehrte, sanfte Atemmassage etablierte. Das Atemhaus München ist somit einerseits ein historischer Ort, der andererseits die Atemheilkunst des Ludwig Schmitts in die Zukunft führt.
Wolfgang Lochers Biografie sei daher allen empfohlen, die sich für die Körper, Geist und Seele verbindende Heilkunst interessieren und die durch die Kenntnis der Geschichte das Leitseil des Atems in die Zukunft weiterreichen möchten.
Wolfgang Locher: Ein Leben für den Atem – im Räderwerk der Zeit. Weg und Werk des Reformarztes Johannes Ludwig Schmitt. Reichert Verl. , Wiesbaden, 2025 (Reihe Zeitpunkt Musik), auch als e-book erhältlich
Interessant auch: Herta Richter über Ludwig Schmitt: www.atemheilkunst.com/Verein/Zeitzeugen Atemhaus München: www.atemhaus.de
Nähere Informationen zur Autorin sind hier zu finden.
19. Juli 2025
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