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Interview mit Michael Pertl

Michael Pertl

atem austria: Lieber Michael, du hast Anfang der 90er Jahre die Ausbildung zum Atempädagogen gemacht. Wie hast du diese Zeit erlebt?

Michael: Ich möchte gerne mit meinem Weg dorthin beginnen: meine erste Atemstunde hatte ich ca. 1985 bei Victoria Schmidt, einer Middendorfschülerin, die dann bei Hertha Grun in der Veening-Arbeit weiter ausgebildet wurde. Diese Erfahrung hat mich tief beeindruckt und es entstand während der weiteren Arbeit bei mir der Wunsch, noch tiefer zugehen und die Ausbildung zu machen.

Ab 1991 habe ich dann die „Berufsfachschule für Atemlehre“ in München besucht. Es war damals eine dreijährige Ausbildung mit Diplomabschluss. Wichtig ist in der Atemarbeit die Differenzierung von „äußerer“ und „innerer“ Atmung: ich meine damit einerseits den Stoffwechselvorgangs (äußere Atmung) und andererseits die seelische Schwingung des Atems (innere Atmung). Es ist wie ein „Handwerk“ das erlernt wird. Den Lehrjahren folgen dann die Gesellenjahre. Ähnlich wie früher auf der Walz, ist es empfehlenswert, hier breitgefächert Erfahrungen bei unterschiedlichen Lehrern in der Einzelarbeit zu sammeln. Das würde ich auch allen jüngeren Kolleg:innen sehr ans Herz legen.

Ich habe insbesondere bei Victoria Schmidt weitergearbeitet. Es waren und sind sehr fruchtbare Jahre der Zusammenarbeit, die Gott sei Dank noch nicht beendet sind.

atem austria: Die Beschäftigung mit dem Atem war ja in vielen Kulturen ein Thema?

Michael: Ganz gewiss, in den alten Kulturen wurde der Atem den Geheimlehren zugeschrieben.

Ende des 18ten und Beginn des 19ten Jahrhunderts kam es zu einer Renaissance der Leib- und Atemarbeit. Otto Hanisch brachte damals zarathustrische Atemübungen in den deutschsprachigen Raum. Auf dem Boden von Kants Aufklärung, philanthropen Strömungen und Erziehungswissenschaften wurde durch unterschiedliche Lehren wieder ein Bewusstsein für Leib und Atem geweckt. Erika Weinert, Mary Wigman und Dr. J. Ludwig Schmitt, auch genannt der „Atemdoktor“, seien hier nur stellvertretend für die Vielen erwähnt.

Auf diesem Hintergrund setzen die heutigen Atemschulen an: Ilse Middendorf zum Beispiel, sie kam von der Gymnastik und entwickelte ihre Atemarbeit aus dem Zusammenfliesen von Atem und Bewegung. Ihr ist es zu verdanken, dass die Atemarbeit didaktisch zugänglich ist. Cornelis Veening, der ursprünglich Sänger war, verlor mit Mitte 20 seine Stimme. Gesangslehrer konnten ihm nicht weiterhelfen. Er entwickelte dann aus seinen inneren Bildern und seinen Gefühlen heraus seine Atemarbeit. Diese Arbeit richtet sich auf das lauschende Erspüren der inneren Gesetzmäßigkeiten des Atems. Dieser „innere“ Atem, wird durch eine vorbereitende Leibarbeit geweckt. Diese Ausbildung ist hier, meiner Erfahrung nach, weniger strukturiert, ermöglicht aber, gerade hierdurch einen individuelleren Zugang zum persönlichen Atempotential. So kann Wissen durch Erfahrung entstehen.

Ich würde sagen: Durch jede Ausbildung wird ein Fundament gelegt, auf das man die weitere persönliche Arbeit aufbauen kann.

atem austria: Was hat die Atemarbeit für dich verändert und du beschäftigst dich in deiner Arbeit mit dem Zellbewusstsein?

Michael: Die Atemarbeit hat mir geholfen, auf einer tiefen, nonverbalen Ebene Kontakt zu meinen inneren Schichten und meiner persönlichen Geschichte aufzunehmen. Durch die Übung werden die inneren Kräfte geweckt, sie ermöglichen immer mehr einen differenzierten Umgang auch mit schwierigen Lebensbedingungen. Die Erfahrung und das Wissen um die Geheimnisse der Füße im Zusammenspiel mit den Nervengeflechten und dem Gehirn ermöglichen, immer mehr eine Klärung der Emotionalität. Hierbei finde ich die Übergänge der Atemräume, also vom Beckenraum zur Leibesmitte, dem Raum der „Verdauung“, und über das Zwerchfell zum Brustkorb, dem Raum der Lungen und des Herzens, ungemein hilfreich. Hier ist ja immer ein Nervengeflecht sozusagen als Puffer „zwischengeschaltet“. Das Gehirn kann ja nur klar denken wenn die Füße mit angeschlossen und die Nervengeflechte entstaut sind. Das klingt jetzt alles sehr klar aber, ich denke, jeder von uns weiß, dass das emotionale Erleben nochmals eine ganz andere Wahrnehmung hat.

Die Beschäftigung mit dem Zellbewusstsein über den inneren Atem finde ich ungemein faszinierend: Wie organisieren sich die Zellen? Wie kommunizieren sie? Hier kann der Atem, meiner Meinung nach ein Brückenglied sein. Das Einspüren in die inneren Vorgänge des Atems, eine differenzierte Innenwahrnehmung vorausgesetzt, ermöglicht die Annäherung und das Erkennen dieser dem Menschen innewohnende Bewusstseinskraft. In der Atemarbeit sammeln wir ja Erfahrungswissen, ich kann das Wirken dieser Kraft also wahrnehmen und integrieren.

In der wissenschaftlichen Gemeinschaft wird das Konzept des Zellbewusstseins dzt. noch kontrovers diskutiert. Ich bin aber guter Dinge, dass in nächster Zukunft durch eine interdisziplinäre Herangehensweise, die Erkenntnisse aus den Bereichen wie Quantenphysik und -chemie integriert, zu einem besseren Verständnis dieses fundamentalen Prozesses führen.

atem austria: Michael, du arbeitest in deiner Praxis in Baden bei Wien und bietest hier Einzel- und Gruppenarbeit an. Welche Menschen suchen deine Praxis auf?

Michael: In den Einzelstunden behandle ich die Klient:innen mit meinen Händen: Der Klient oder die Klientin liegt je nach Möglichkeit in Bauchlage auf einer Liege. Durch gezielte Berührungen helfe ich, das Gewebe mehr zu entspannen. Meist zeigen sich erstmals die Erlebnisse des Tages im Körpertonus. Im Anschluss bieten meine Hände dem Atem Möglichkeiten der Entfaltung an, um freier zu fließen und ein ganzheitliches Wohlbefinden zu ermöglichen. Dies geschieht durch meist sanftes streichen der entsprechenden Leib-Partien und dem somatischen Ansprechen der dem Atem innewohnenden Gesetzmäßigkeiten.

Die Gruppenarbeit biete ich in Form eines „Atemtages“ an. Er findet etwa monatlich statt. Dabei sitzen die Teilnehmer:innen auf einem Hocker im Kreis, schließen die Augen und die Hände liegen entspannt mit den Handflächen nach unten auf den Oberschenkeln. Die Teilnehmer:innen folgen mit ihrer Aufmerksamkeit meinen verbalen Anleitungen durch den Körper. Auch hier ist das Ziel, dass die Atem-Energie wieder freier fließen kann. Es arbeitet jeder für sich und es zeigen sich ganz unterschiedliche Empfindungen, je nachdem, was im Einzelnen gerade angesprochen wird. Neben dem freieren Atemfluss im Leib entsteht auch eine Gruppenenergie im Raum, die deutlich wahrnehmbar ist.

Vor der Teilnahme an einem Atemtag empfehle ich, eine Einzelstunde zum gegenseitigen Kennenlernen zu nehmen.

Als neues Format hat sich seit 2020 eine Gruppe aus sehr erfahrenen Klient:innen gefunden, die einmal pro Woche online mit mir arbeitet.

Ebenfalls gebe ich Fortbildungen an Schulen und im beruflichen Kontext.
Ich arbeite mit Menschen aus allen Gesellschaftsschichten. Dies impliziert natürlich auch Menschen mit hochsensitiver Veranlagung und Menschen mit schweren körperlichen und oder geistigen Beeinträchtigungen.

Atem austria: Lieber Michael, ein Wort, ein Satz zum Ende unseres Gespräches?

Michael: Ja, sehr gerne.

Ein Gedicht von Friedrich Rückert, es passt, finde ich, wunderbar zu unserer Atemarbeit:

Mit Unvollkommenheit zu ringen, das ist des Menschen Los,
das ist sein Wert und nicht sein Mangel bloß.
Was unvollkommen ist, das soll vollkommen werden;
denn nur zum Werden, nicht zum Sein, sind wir auf Erden.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen langen Atem!

atem austria: Lieber Michael, herzlichen Dank für das Gespräch.

31. März 2025


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