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Interview mit Martin Wendl

„Der Atem führt uns zurück zu uns selbst“

atem austria: Lieber Martin, stell dich bitte kurz vor.
Martin: Ich bin 47 Jahre alt und lebe mit meiner Frau und unseren zwei Kindern im Tiroler Ötztal. Nach der Handelsakademie führte mich mein Weg über verschiedene Stationen im In- und Ausland (Irland, Schweiz) schließlich zum Volksschullehramt.
Die Arbeit mit Kindern – das Soziale, Kreative, Bewegte – hat mich von Anfang an begeistert. Heute verbinde ich meine pädagogische Erfahrung mit meiner Tätigkeit als Atempädagoge.

atem austria: Wie bist du zur Atempädagogik gekommen?
Martin: Aus einer gesundheitlichen Krise heraus. In meinem ersten Jahr als Klassenvorstand an einer Sonderschule spürte ich massiven Druck im Bauchraum – ein Warnsignal, das ich nicht ignorieren konnte. Ich habe dann nach Möglichkeiten gesucht, meinen Körper in Stresssituationen zu regulieren – und stieß auf die Ausbildung zum akademischen Atempädagogen an der FHG Tirol, welche in Wien abgehalten wurde.
Bereits nach dem ersten Ausbildungswochenende spürte ich eine deutliche Erleichterung. Mein Körper antwortete auf das Atemerleben – das war für mich der Beginn einer tiefgreifenden Entwicklung.

atem austria: Was waren persönliche Wendepunkte für dich?
Martin: Körperliche Stressreaktionen haben mich wiederholt dazu gezwungen, mein Leben und Denken zu hinterfragen. Ich habe gelernt, genauer hinzuspüren, was mir guttut. Der Atem wurde mir dabei zum wichtigsten Spiegel.

atem austria: Was hast du darüber hinaus gelernt oder ergänzt?
Martin: Ich habe mich intensiv mit dem Nervensystem, der Polyvagaltheorie und mit körperorientierten Methoden wie Somatic Experiencing beschäftigt. Dieses Wissen fließt unterstützend in meine Arbeit ein. Es hilft Menschen, ihre körperlichen Empfindungen zu verstehen, mit ihnen zu arbeiten und dadurch Angst oder Ohnmacht zu überwinden.

atem austria: Wo und wie arbeitest du heute?
Martin: Ich biete Einzelsitzungen und kleine Gruppenkurse (bis max. 7 Personen) in Mieming und am Piburger See (Ötztal) an – beides in inspirierender Umgebung. Zusätzlich bin ich mobil unterwegs oder arbeite online über Zoom. Auch in der Schule setze ich atempädagogische Übungen ein – besonders zur Beruhigung, zur Vorbereitung auf konzentriertes Arbeiten oder zum Ausbalancieren der Hirnhälften. Mit Kindern wie Erwachsenen arbeite ich gerne über ihre natürliche Neugier und das sinnliche Erleben – nicht belehrend, sondern spielerisch und feinfühlig.

atem austria: Mit welchen Themen kommen Menschen zu dir?
Martin: Ich begleite Menschen mit Erschöpfungszuständen, Angstsymptomatik oder in herausfordernden Lebensphasen – z. B. bei Burnout oder während einer Schwangerschaft.
Mir ist wichtig: Jeder Mensch bringt seine eigene Geschichte mit. Ich arbeite auch mit Kindern und Jugendlichen, die überfordert sind oder nicht mehr frei durchatmen können – emotional, körperlich, geistig.

atem austria: Wie gestaltest du eine erste Einheit?
Martin: Am Anfang steht das Gespräch und eine respektvolle Annäherung. Erste Übungen ermöglichen es, den Körper und Atem bewusst zu spüren. Ich arbeite sehr intuitiv und verknüpfe die Atempädagogik gerne mit Elementen aus dem Somatic Experiencing – immer im Tempo des Klienten. Am Ende reflektieren wir gemeinsam: Was hat sich verändert – in der Wahrnehmung, in der Stimmung, im Denken? Die Integration ist mir besonders wichtig. Der Körper darf das neue Bild genießen.

atem austria: Was ist dir in der Arbeit mit Klient:Innen besonders wichtig?
Martin: Dass sie sich gesehen und gehört fühlen. Dass ihr Erleben Sinn ergibt – besonders, wenn diffuse Symptome Angst machen. Atempädagogik hilft, den Körper wieder als sicheren Ort zu erleben. Ich arbeite ohne Druck, mit Feingefühl, Geduld und großem Respekt. Es wird nicht „am Gras gezogen, damit es schneller wächst“ – Sicherheit und Selbstwirksamkeit stehen an erster Stelle.

atem austria: Gibt es eine zentrale Erfahrung, die du weitergeben möchtest?
Martin: Wie wohltuend es ist, dass diese feine, Atemarbeit wirkt – ohne etwas leisten zu müssen. Der Atem bringt uns zurück in die Achtsamkeit, ins Spüren, ins Vertrauen. Das ist das Gegenteil unseres funktionalen Alltags, in dem das „Wollen“ oft dominiert.

atem austria: Was hat sich für dich persönlich durch die Atempädagogik verändert?
Martin: Ich erkenne schneller, wann ich funktioniere, statt zu leben. Mein Körperbewusstsein ist gewachsen, meine inneren Rezeptoren sind sensibler geworden. Ich nehme Überforderung früh wahr und kann Grenzen setzen. Das hat mir Selbstwert und Selbstverantwortung gegeben – mein Atem ist mein innerer Kompass geworden.

Meine Vision – wohin ich mit meiner Arbeit möchte
Ich wünsche mir, dass Menschen wieder ihre eigenen Grenzen wahrnehmen – und ihnen vertrauen. In unserer Gesellschaft geht es oft nur darum, wieder zu funktionieren. Doch viele Symptome sind Botschaften des Körpers, die gesehen werden wollen. Ich möchte Räume schaffen, in denen sich Menschen mit ihrem Atem, ihrem Erleben und ihren Bedürfnissen verbinden dürfen – sicher, achtsam und ohne Druck.
Neben der Arbeit mit Erwachsenen liegt mir auch die Begleitung von Kindern am Herzen: Ich träume davon, ein kindgerechtes Atembuch für die Altersgruppe von 5 bis 7 Jahren für den Unterricht aber auch für Familien zu gestalten – verspielt, neugierig, sinnlich. Und ich möchte interdisziplinär arbeiten, z. B. mit Klang und Musik um die Atempädagogik weiter zu öffnen.
Wenn ich in zehn Jahren zurückblicke, wünsche ich mir, sagen zu können: Ich habe Menschen dabei begleitet, den Schatz ihres individuellen Atems zu entdecken – und dadurch Freiheit, Sicherheit und Lebendigkeit zu erfahren.

atem austria: Lieber Martin, vielen Dank für dieses Interview. Es ist auch für uns als Kolleg:Innen sehr interessant, wie dein bisheriger Weg mit dem Atem verlaufen ist. Wir wünschen dir alles Gute für die Zukunft und schätzen es sehr einen Kollegen wie dich in unserem Verband zu haben. Wir wissen auch, dass der Weg nicht immer leicht ist und man oft sehr lange Zeit dranbleiben muss bis sich der Erfolg einstellt. Auf dein Buch freue ich mich jetzt schon.

📌 Kontakt & weitere Informationen

Martin – freiatmen
Website: www.freiatmen.info

12. November 2025


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